13.05.2022 von Prof. Ueli Angst (ETH Zürich)
Um nachhaltiger zu werden benötigt die Bauindustrie endlich zuverlässige Vorhersagen der Lebensdauer von Bauwerken, sagt Ueli Angst. Er plädiert für einen Paradigmenwechsel bei Langzeitprognosen von Stahlbeton.
Die Bauindustrie ist im Umbruch. Digitalisierung, Dekarbonisierung und robotikgestützte Fabrikation sind Trends, welche Forschung und Praxis nachhaltig prägen. Weltweit und in der Schweiz werden neue Werkstoffe und Bauverfahren entwickelt, um Ressourcen zu schonen, Emissionen zu reduzieren und Bauabläufe zu automatisieren.
Eine besondere Herausforderung bei Ingenieurbauwerken liegt in der extrem langen Lebensdauer. Ingenieure und Ingenieurinnen müssen sicherstellen, dass Brücken, Staudämme und Tunnel über Zeithorizonte in der Grössenordnung eines Jahrhunderts dauerhaft bleiben. Das erschwert es, frühzeitig aus Fehlern zu lernen. Erkenntnisse über die tatsächliche Performance eines Werkstoffs oder einer neuen Bauweise liegen oft erst Jahrzehnte nach dem Bau vor.
Deshalb sind wir auf zuverlässige Langzeitprognosen angewiesen. Ansonsten riskieren wir, dass die heute und künftig erstellten Bauwerke vorzeitig unerwünschten Alterungserscheinungen zum Opfer fallen. Das Problem: Prognosemodelle für Ingenieurbauwerke stecken noch in den Kinderschuhen.
Sie kommt schleichend und bleibt oft lange unbemerkt, bis es zu spät ist: Korrosion.
Korrosion von Stahl in Beton
Ein bedeutendes Beispiel ist die Betonindustrie. Beton ist das am meisten hergestellte Material und verursacht rund drei Mal so viel CO2 wie die Luftfahrt. Die Betonbranche hat sich das Ziel gesetzt, ihren CO2-Ausstoss bis 2050 auf netto null zu senken. Mit Hochdruck wird nach klimaschonenden Alternativen gesucht, etwa emissionsarmen Zementen oder Recycling von Abbruchmaterial. Doch welche dieser neuen Baustoffe sind auf lange Sicht wirklich die nachhaltigsten?
Die Achillesferse von Stahlbetonbauwerken ist die Korrosion des Bewehrungsstahls. Oft wird Korrosion durch Tausalze verursacht, die durch den porösen Beton eindringen und die Bewehrung angreifen: Der Stahl rostet, der Beton bröckelt. Korrosion ist der häufigste Schädigungsmechanismus im Ingenieurbau und verursacht enorme Kosten – in der Schweiz rund 1000 Franken pro Minute allein in der Strasseninfrastruktur. Vorhersagen zu Zustand und Sicherheit von Bauwerken sind daher von zentraler Bedeutung. Unglücklicherweise sind die heute verfügbaren Prognosemodelle nur begrenzt in der Lage, die Korrosion von Stahl in Beton zuverlässig vorherzusagen.
Falscher Fokus verhindert Fortschritt
In einer kürzlich publizierten Perspective habe ich zusammen mit Forschenden aus Nordamerika und Europa die historische Entwicklung der wissenschaftlichen Vorhersage von Korrosionsschäden kritisch durchleuchtet. Wir stellen fest, dass alle bestehenden Prognosemodelle auf einem einzigen theoretischen Konzept basieren, das die Lebensdauer von Stahlbeton als zweistufigen Prozess vereinfacht: In der ersten Phase verändert sich das Milieu im Beton; in der zweiten Phase korrodiert der Bewehrungsstahl.
Dieses Konzept dominiert die Forschung seit Jahrzehnten, ohne dass die Vorhersagen dabei wesentlich genauer werden. Unsere Analyse zeigt, dass die Dominanz dieses einen Konzepts wie ein Flaschenhals wirkt und die Entwicklung von neuen Prognoseansätzen in fataler Weise blockiert.
So fokussieren heutige Prognosemodelle auf die erste Phase, in welcher Prozesse ablaufen, bevor es überhaupt zur Bewehrungskorrosion kommt. Dazu stützen sich diese Modelle weitgehend auf empirische Erfahrungen mit früheren Baustoffen und haben gerade für neue Werkstoffe eine sehr beschränkte Aussagekraft. Hinzu kommt, dass auch die heutigen Regelwerke und Prüfmethoden auf dem traditionellen Paradigma fussen und nur beschränkt auf neue Baustoffe anwendbar sind. Schlimmer noch: Oft werden moderne, emissionsarme Baustoffe mit diesen Regelwerken für den Praxiseinsatz benachteiligt, was äusserst bedauerlich ist.
Forschung und Praxis müssen umdenken
Deshalb bin ich überzeugt, dass bei der Korrosionsprognose ein Paradigmenwechsel notwendig ist. Wissenschaft und Ingenieurpraxis sollten sich vom «Zwei-Phasen-Konzept» lösen und den Fokus stattdessen auf die Korrosion selbst legen. Wir brauchen wissenschaftlich fundierte Modelle, welche die tatsächlichen Korrosionsschäden und deren Auswirkungen auf das Tragverhalten eines Bauwerks zuverlässig vorhersagen, und das sowohl für alte als auch für neue Baustoffe.
Werkzeug für wegweisende Weitsicht
Der Gewinn besserer Vorhersagemodelle wäre gross. Sie würden eine proaktivere Instandhaltung unserer zusehends alternden Infrastruktur ermöglichen, indem sie den richtigen Zeitpunkt für die Instandsetzung bestimmen – nicht zu spät und nicht zu früh. Die Infrastruktur zu erhalten ist eine der grossen Herausforderungen aller industrialisierten Länder. Diese Mammutaufgabe wird ohne Fortschritte in Diagnostik und Prognose kaum ohne Abstriche bei der Sicherheit oder der Verfügbarkeit der Bauwerke zu bewältigen sein.
Präzise Korrosionsprognosen sind aber auch der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit im Ingenieurbau.Schliesslich zählt nicht nur der ökologische Fussabdruck bei der Geburt eines Bauwerks, sondern jener über den gesamten Lebenszyklus. Lebenszyklusanalysen sind jedoch schwierig, wenn man die Lebensdauer nicht kennt.
Anstrengungen, die Bauindustrie zeitnah zu dekarbonisieren, sind äusserst begrüssenswert. Trotz aller Begeisterung für Netto-Null sollten wir den Weitblick über 2050 hinaus aber nicht aus den Augen verlieren. Was wir heute verbauen, muss auch für die nächsten Generationen sicher und dauerhaft sein. Nur mit Prognosemodellen können wir heute die richtigen Entscheidungen für morgen treffen und aus der Palette an vielversprechenden Baustoffen und Verfahren die wahrhaftig nachhaltigen auswählen.